Vom Suchen und Finden
Als sie sich dem vereinbarten Treffpunkt näherte, lag die Kirche in einem dichten Schleier frühmorgendlichen Nebels. Der massive Langbau mit dem imposanten Portal und den hohen, dem gotischen Baustil nachempfundenen Fensterbögen war nicht mehr als ein mächtiger Schemen im wabernden Dunst des anbrechenden Tages. Der Kirchturm versank nach ein paar Metern Höhe fast vollständig im undurchdringlichen Nichts. Das Kopfsteinpflaster zu ihren Füßen war feucht und schlüpfrig, und sie ging vorsichtig, angespannt, jeder Zeit bereit, einen möglichen Fehltritt abzufangen. Sie war froh, dass sie sich für die flachen Schuhe entschieden hatte.
Sie wusste nicht, wen sie erwartet hatte, doch als die Bank unterhalb des Kirchhofes in ihr Blickfeld kam – ein dunkler, hölzerner Schatten im Nebel – war sie sicher, dass es sich um einen Irrtum handelte. Der Mann, der dort saß, war fast noch ein Kind, Anfang Zwanzig, höchstens. Er war schmal und dunkelhaarig, und in seinen schwarzen Kleidern wirkte er klein und zerbrechlich vor der weißen beweglichen Wand des Nebels. Sie blieb auf dem Hügel stehen und plötzlich hatte sie Zweifel. Was tat sie hier überhaupt? Dies war keine Lösung. Dies war ein Fehler.
„Bernadette?“
Sie sah erschrocken auf, und der junge Mann stand direkt vor ihr. Sie konnte kaum glauben, wie schnell und lautlos er so nahe an sie herangetreten war, doch die Bank war leer und hier stand er, gerade einen Schritt von ihr entfernt. Er war ein gutes Stück größer, als sie ursprünglich gedacht hatte, überragte sie um mindestens einen Kopf, und unter dem dünnen schwarzen Pullover, den er unter seinem ledernen Kurzmantel trug, zeichneten sich eine muskulöse Brust und ein muskulöser Bauch ab. Auch schien er älter zu sein, als er auf die Entfernung hin gewirkt hatte. Seine ganze Gestalt verlor auf diese kurze Distanz ihre kindliche Harmlosigkeit.
„Sie sind Bernadette, nicht wahr?“ Seine Stimme war dunkel und rau, eine Stimme, die sie bereits vom Telefon kannte.
„Ja“, sagte sie und versuchte seinem Blick standzuhalten, der sie mit unverhohlenem Interesse musterte.
„Schön, Sie persönlich kennen zu lernen.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sie zögernd ergriff. Sein Händedruck war fest und kühl. „Setzen wir uns doch dort unten auf die Bank“, schlug er vor, doch sie schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, ich möchte lieber ein Stück gehen.“
„In Ordnung.“ Er lächelte und berührte kurz ihren Arm, dann gingen sie los.
Bernadette schob die Hände in die Taschen ihres Mantels und blickte starr zu Boden. Sie bemühte sich um Fassung, doch ihr Inneres geriet immer mehr in Aufruhr. War es zu spät um umzukehren, einen Rückzieher zu machen? Noch hatte sie keine stichhaltigen Beweise, noch konnte sie sich einreden, dass alles nur ein Hirngespinst war. Gut, dieser Mann, dieser von ihrer Schwester angeheuerte Mann wollte mit ihr reden, wollte ihr berichten, was er herausgefunden hatte, doch noch hatte er kein Wort gesagt. Wenn sie jetzt einfach ausbrechen und den Hügel hinunter rennen würde, mitten hinein in den Nebel, würde sie sich dann ihren Seelenfrieden zurückerobern können? Mit einer Lüge? Einem Selbstbetrug?