Kannst du Mich sehn?
Sie hatte die wundervollsten Augen, in die er jemals geblickt hatte, so klar und bestechend wie zwei lupenreine Bernsteine. Ihre Iris erstrahlte in kräftigen Brauntönen und war durchsetzt mit winzigen schwarzen Flecken und lebendigen goldenen Funken, die wie glühende Sonnen leuchteten. Der innere Kreis, so warm und satt wie flüssiger Honig, war umgeben von einem dunklen, ebenmäßigen Ring, der ihrem Blick prickelnde Glut verlieh und ein Herz mühelos ins Stolpern bringen konnte. In der Mitte der Iris lag die Pupille – groß und rund und aufmerksam – ein nachtschwarzer, unergründlicher Brunnen voller fesselnder Magie.
Diese Augen waren ein Mysterium. Ein Mysterium der vollkommenen Schönheit – umgeben von den dichten, spitzen Dornen ihrer Wimpern und erfüllt von der fast schon beängstigenden Intensität ihres Blickes. Diese Augen versprachen Erlösung. Und brachten am Ende doch nur Verderben.
Der Tag hatte warm und sonnig begonnen, so wie schon all die Tage davor, doch er konnte diesem Spätsommer nichts abgewinnen. In ihm herrschte Dunkelheit, kalt und feucht wie ein Verließ. Für eine Weile war alles in Ordnung gewesen, ruhig und irgendwie fast schon friedlich normal. Eine Weile hatte er vielleicht tatsächlich geglaubt, es gäbe mehr als nur einen Weg aus diesem finsteren Loch heraus, in dem er schon sein halbes Leben lang festsaß. Mehr als nur eine Lösung. Doch jetzt verengte sich die Welt erneut zu einem schmalen Korridor, zerschmolz alles um ihn herum in seinem starren Tunnelblick zu einem einzigen schwarzen Fleck, einem einzigen dunklen Verlangen.
Er war schon seit Tagen nicht mehr zur Arbeit gegangen, hatte den Stecker des Telefons aus der Wand gezogen und ließ sein Handy ausgeschaltet. Er schluckte seine letzten Pillen, besorgte sich auf der Straße neue, schluckte auch die, versuchte, das Grollen in sich zu betäuben, und versuchte es auch wieder nicht, denn er wusste, er wollte, er wusste, dass es sinnlos war.
Er verbrachte seine Zeit im Park und beobachtete die jungen Frauen und die bedauernswerten alten Schachteln, die noch immer glaubten, jung zu sein, in ihren kurzen Röcken und durchscheinenden Kleidern. Er betrachtete ihre tief ausgeschnittenen Dekolletees und ihre nackten, zur Schau gestellten Schenkel und dachte darüber nach, wie wenig ihre auf Erotik basierende Selbstsicherheit noch wert war, wenn sie erst einmal in der Falle saßen. Wie schnell sie sich dann wünschten, ihr Rock wäre ein Stück länger und ihr Tanktop nicht ganz so eng. Wie erbärmlich klein der Rest ihres billigen Stolzes am Ende noch war.
Er stellte sich neben sie, wenn sie am Ententeich Brotkrumen ins Wasser warfen oder mit vor den Brüsten verschränkten Armen am Rand des Spielplatzes standen und ihre tobenden Kinder im Auge behielten. Keine einzige wich vor ihm zurück, keine einzige erschauderte in der eisigen Kälte, die er mitbrachte. Sie lächelten, und er wusste, er war noch immer gut in diesem Spiel.
Und dann traf er sie.