Annas Erbe
Anna legt den kleinen Handspaten zur Seite und stößt ihre Hände in das lockere Erdreich. Das ist besser, denkt sie, während sich ihre Finger durch den noch warmen Mutterboden graben. Manche Dinge müssen einfach mit der Hand erledigt werden.
Die Sonne versinkt allmählich hinter dem Horizont, und die ersten dämmrigen Schatten kriechen über den weitläufigen Garten heran. Es ist sehr still, kein Geräusch dringt von den benachbarten Grundstücken herüber, kein Vogel singt, nichts ist zu hören. Es scheint, als sei die Welt unter der drückenden Hitze dieses Sommertages atemlos verstummt.
Anna wirft einen unbehaglichen Blick zu dem großen Tannenwald hinüber, der direkt hinter dem Zaun ihres Gartens beginnt. In den hohen Wipfeln glüht noch das warme Rot des Sonnenuntergangs, doch zwischen seinen glatten, schlanken Baumstämmen breitet sich bereits eine unheimliche Dunkelheit aus. Anna mag es nicht, um diese späte Uhrzeit noch hier draußen zu sein, so weit entfernt vom Haus, so tief in dieser abgeschiedenen Einsamkeit. Sie mag diesen Wald nicht, seine mächtige, stumme Präsenz und sein undurchdringliches Herz, in das sie nicht hinein blicken kann, ganz egal wie sonnig und hell der Tag ringsumher auch ist. Sie schüttelt sich unter einer plötzlichen Gänsehaut und versucht, sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren.
Mit verkniffenen Lippen beginnt Anna zu graben.
Die Beerdigung liegt zwei Wochen zurück.
Es war ein schlichtes Begräbnis, zu dem sich ein paar Verwandte und die unmittelbare Nachbarschaft auf dem Friedhof eingefunden hatten. Der Pastor hielt eine kurze Grabrede, sprach von einem arbeitsreichen, erfüllten Dasein, einem gnadenvollen Tod ohne Leiden und von der Aussicht auf das ewige Leben. Dann wurde der Sarg in die Grube hinunter gelassen. Anna hatte ein Gesteck aus weißen Nelken anfertigen lassen. Die hatte ihre Mutter in den letzten zwanzig Jahren manchmal auf das Grab des Vaters gestellt, Anna vermutete deshalb, dass sie Nelken für diesen Anlass als angemessen empfunden hätte.
Von dem spärlichen Nachlass wird nicht viel übrig bleiben, nachdem alle Beerdigungskosten beglichen sind, aber das ist egal. Anna ist auf das Erbe nicht angewiesen, sie hat für sich selbst gesorgt, für sich und ihre Tochter Jennifer.
Anna hält inne und sieht auf die kleine Schatulle hinab, die sie neben sich an den Rand des verwilderten Blumenbeetes gestellt hat. Unter die Erde damit! Tief in den Boden. Raus aus dem Blick!
Wenn sie erst einmal vergraben ist, dann ist auch besser damit umzugehen.
Anna wischt sich mit dem schmutzigen Handrücken eine Strähne ihres dunklen Haares aus dem Gesicht und gräbt weiter.