Im Zentrum der Zeitlichkeit

Was war das?
Darrol ließ die Wasserflasche sinken und schirmte seine Augen mit der Hand gegen das grelle Sonnenlicht ab. Was hatte er da im Augenwinkel gerade zu sehen geglaubt?
Um ihn herum war nichts als Wüste, gottverlassen, kahl und trostlos. Heiße Luft waberte über den staubigen Untergrund und ließ trügerische blaue Seen am Band des Horizonts entlang schimmern. Doch weiter links war noch etwas anderes. Darrol zog die Augen zusammen um besser sehen zu können. In der flirrenden Hitze glaubte er ein lang gezogenes Gebäude zu erkennen. Es war schätzungsweise fünfzig Meter hoch, doch von Darrols Blickwinkel aus gesehen musste es über zweihundert Meter breit und mehrere Kilometer lang sein, ohne erkennbare Fenster und Türen. Ein lang gestreckter, mächtiger Koloss von einem Bauwerk – doch wer sollte so etwas Gewaltiges hier bauen, mitten in der Wüste von Nevada?
Das Militär? Darrol tastete vorsichtig nach der dicken Beule an seiner Schläfe. Die Haut straffte unangenehm und er spürte, wie die Beule noch immer weiter wuchs. Ein Waffenlager vielleicht. Oder ein Forschungslabor. Er betrachtete seine Finger – Blut, die Beule blutete. Dann verwarf er den Gedanken an ein Waffenlager wieder. Hier, keine Meile von der Straße entfernt? Ohne Schutzzaun, ohne Wachposten? Er war auf seinen regelmäßigen Wochenendtrips nach Las Vegas schon oft hier vorbeigekommen, doch ein Gebäude, überhaupt ein Zeichen menschlicher Zivilisation hatte er hier in dieser Ecke der Ödnis noch nie zuvor bemerkt.
Er sah noch einmal genauer hin und nahm an, dass seine Augen sich nach diesen überzeugenden Argumenten keinem weiteren Trugschluss mehr hingeben würden. Doch beim nächsten Blick wurde ihm bewusst, dass da tatsächlich ein gewaltiges Gebäude stand.
Ein starker Wind war aufgekommen. Eine plötzliche Böe erfasste die schwere Harley, die Darrol nach dem Sturz mühsam wieder aufgestellt hatte, und ließ sie bedrohlich wanken. Er stemmte sich erschrocken dagegen. Der tiefe Kratzer im Lack der Maschine schmerzte ihn mehr als sein blutendes Bein, mehr als seine pochende Schläfe oder der geprellte Arm. Alles war so wahnsinnig schnell gegangen: Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, ein dicker Stein auf dem Asphalt, ein Sand verwehter Straßengraben …
Darrol stieg ächzend zurück auf sein Motorrad. Er spürte, wie sich hinter seiner Stirn ein dumpfes Grollen auszubreiten begann. Doch jetzt war ganz sicher nicht der passende Augenblick für Wehleidigkeit. Der angekündigte Sturm näherte sich mit riesigen Schritten, der Sand wirbelte bereits in wütenden Wolken um ihn herum, und Darrol hatte durch den Unfall kostbare Zeit verloren.
Er zog hastig die Motorradbrille und den Baumwollschal übers Gesicht und sah sich prüfend um. Wenn er den Sturm nicht ungeschützt im Freien verbringen wollte, musste er jetzt handeln. Die peitschenartigen Böen legten die Vermutung nahe, dass die Wut des Windes heute besonders groß war, und eine weitere schmerzhafte Erfahrung, nämlich die, diesen Zorn hier mitten im Herzen des Sandsturms zu erleben, wollte Darrol sich nach Möglichkeit ersparen.
Er sah wieder zu dem riesigen Bauwerk hinüber. Es gab keinen Zweifel, das Gebäude war tatsächlich da, solide und standhaft und von monumentalen Ausmaßen. Ein gewaltiger Betonklotz mitten in der Wüste. Darrol ließ den Motor der Harley aufheulen und steuerte entschlossen darauf zu.
Während der Fahrt rechnete er jeden Augenblick mit einer Stimme aus dem Megaphon, die ihm befahl, sofort zu stoppen. Er war fest davon überzeugt, von irgendwelchen zuvor verborgenen Wachen aufgehalten zu werden, zumindest an einen Zaun zu gelangen, den er aus der Ferne nicht gesehen hatte. Doch nichts von alledem geschah. Er konnte ungehindert bis zur rechten Kopfseite des Gebäudes heranfahren. Die Sand geschwängerten Windböen nahmen immer weiter zu.
Darrol sah an den gewaltigen, von Wind und Sand glatt geschmirgelten Wänden des Gebäudes empor – keine Fenster und Türen, nichts. Er gab wieder Gas und fuhr bis zur Rückseite. Auch hier, soweit er sehen konnte kein Eingang, keine Fenster. Die ockerfarbenen, ebenen Mauern waren ohne jegliche Einbuchtungen.