Längs der Achse
Vater,
Du bist sicherlich überrascht von mir zu hören. Du hältst Post von Deinem verlorenen Sohn in den Händen, das haut Dich glatt um, was? Ein echter Heuler!
Wie lange ist es her? Fast sieben Jahre? Ich hab’s letzte Nacht mal nachgerechnet, es sind tatsächlich schon sechs Jahre, zehn Monate und siebzehn Tage, um es ganz genau zu sagen. Ich werd’s nie vergessen. Wie auch? Es war immerhin mein 19. Geburtstag, als ich wegging … (flüchtete?) Ist ’ne verdammt lange Zeit, und ich gebe ehrlich zu, dass ich Herzklopfen habe, während ich diese Zeilen schreibe.
Denkst Du noch an mich, oder hast Du mich längst aus Deinem Kopf verbannt? So wie Du mich aus Deinem Herzen verstoßen hast? Das soll jetzt kein Vorwurf sein, also werd’ nicht gleich sauer. Ist nur ’ne Feststellung. Mein Gott, es ist damals so viel Scheiße passiert! Es wurde dies gesagt und jenes getan, und plötzlich war alles so unüberwindbar kompliziert. Es ist echt müßig, jetzt noch jemandem die Schuld für irgendwas zu geben. Ich mach’ Dir also keine Vorhaltungen.
In gewisser Weise kann ich manche Deiner Reaktionen heute sogar nachvollziehen. Sieben Jahre Abstand lassen einen ruhiger werden. Ich bin viel ruhiger geworden. Gilt das auch für Dich? Bist Du ruhiger geworden, Vater? Nicht mehr so laut? Nicht mehr so ungehalten?
Ich versuche die Dinge aus Deinem Blickwinkel zu sehen und verstehe jetzt, dass ich Dich mit meinem Verhalten damals tief getroffen habe. Ich hab’ immer noch einen draufgesetzt, immer und immer wieder noch einen draufgesetzt. Dabei hab’ ich nicht nur Deine Gefühle verletzt, sondern, was wohl noch viel schlimmer ist – Deine Ehre. Und das tut mir wirklich leid. Man sollte niemals die Ehre eines Mannes verletzen. Ich musste wohl selbst erst einer werden, um das zu begreifen.
Wir haben uns damals wirklich nichts geschenkt, was? Deine Hiebe (die echten wie die verbalen) hinterließen weit mehr als nur ein paar Prellungen, das kannst Du mir glauben. Unschuldslämmer sind wir also beide nicht.
Ich frage mich, ob Du auch schon mal versucht hast, die Dinge aus meiner Ecke des Ringes zu betrachten? Norden und Süden. Du und ich. Da war immer Deine Sicht der Dinge und dann war da noch meine. Und in der Regel lagen die so weit auseinander wie Erde und Mars. Glaubst Du, das wird immer so sein?
Es hat mich nach Amerika verschlagen, weißt Du das überhaupt? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich hab’ Dir mal aus Miami eine Karte geschickt. Geschrieben habe ich sie, aber habe ich sie auch abgeschickt? Ehrlich gesagt hoffe ich, dass ich es nicht getan habe. Wenn sie doch ankam, dann ... vergiss bitte, was ich da geschrieben habe. Ich war damals ziemlich daneben …
Ich bin jetzt in New York. Schon ’ne ganze Weile. Mittendrin im Big Apple. Einer der unzähligen Würmer, die ihn von innen heraus aushöhlen. Die Idee gefällt mir. Stell Dir das mal vor – lauter gefräßige Würmer mit rasiermesserscharfen Reißzähnen, die diesen riesigen, faulen Apfel von einer Stadt zerfressen …