Elementar
Zinédine Zidane hat seine Fußballkarriere beendet.
Bis vor eineinhalb Jahren hatte Jana keine Ahnung, wer Zinédine Zidane überhaupt war. Sie interessierte sich nicht für Fußball, zumindest nicht über die üblichen weiblichen Klischeebetrachtungen hinaus, dass David Beckham ein unfassbar gut aussehender Beau mit einer unfassbar peinlichen Frau war, und Ronaldo – ob jetzt gerade dick oder dünn – die schönste Zahnlücke der Welt besaß.
Heute weiß Jana so gut wie alles über Zidane. Sie kennt jede Mannschaft, für die er jemals gespielt hat, die Namen seiner Familienangehörigen und seiner Freunde. Sie kennt die Summe seiner Tore und Platzverweise, seine gewonnen Titel, Auszeichnungen und Werbeverträge. Sie weiß, was er gerne isst und welche Autos er fährt.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 hat sie keines seiner Spiele verpasst, keinen Bericht über ihn und kein Interview. Sie zappte sich durch sämtliche deutschen und französischen Fernsehkanäle, die sie empfangen konnte, und sie sah sich alles an, was über ihn gezeigt wurde. Während ganz Deutschland für Klose und Co. die Fahnen schwang, konzentrierte sie sich ausschließlich auf Zizou. Sie studierte seine anmutigen Bewegungen, während er den Ball führte, starrte atemlos in sein Gesicht, wenn sein stechender Blick die ständig auf ihn gerichteten Kameras traf, und sie verharrte in regloser Faszination, wenn seine harten, kantigen Gesichtszüge nach einem gewonnenen Spiel in einem triumphierenden Lächeln zerflossen.
Jana feierte mit ihm all seine stillen und lauten Triumphe und starb mit ihm während seinem brutalen Foul an Materazzi im Endspiel. Zinédine Zidane ist zu einer manischen Sucht für sie geworden, und das hat einen einzigen sinnlosen Grund: Étienne.
„Wir müssen umkehren“, sagt Jana und wirft Sebastian einen flehenden Blick zu. „Die Straße steigt immer weiter an, mitten in die Alpen hinein. Wir sind völlig falsch hier!“
Sebastian gibt keine Antwort und starrt weiter mit verkniffenem Gesicht durch die beschlagene Windschutzscheibe in die stürmische Nacht hinaus. Er fährt viel zu schnell, viel zu aggressiv, und Jana weiß, dass er ihr die Schuld gibt für diese Odyssee. Alles ist ihre Schuld – weil sie von der Autobahn abfahren wollte, um den Charme der französischen Dörfer zu erleben, weil sie zu blöd ist eine Straßenkarte zu lesen und sie deshalb jetzt in dieser gottverlassenen Einöde feststecken. Alles ist Janas Schuld.
Sie betrachtet Sebastians kantiges Profil in der Dunkelheit, den schmalen Strich seiner zusammengepressten Lippen und ist wütend auf sich selbst, weil sie es wieder einmal zulässt, dass er sie für alles verantwortlich macht. Schließlich hat auch er mit fahrigen Fingern und fahrigem Blick die zerfledderte Karte studiert, um dann ohne Plan und mit aggressiven Wendemanövern mal hierhin und mal dorthin abzubiegen. Hinter ihren Schläfen beginnt ein dumpfer Schmerz zu pochen. Sie ist müde und will endlich irgendwo ankommen, will ihre Beine ausstrecken und für eine Weile die Augen schließen.
„Sebastian“, versucht sie erneut zu ihm durchzudringen.
„Wir hätten auf der Autobahn bleiben sollen!“ Er fährt mit viel zu hohem Tempo in eine enge, unübersichtliche Kurve hinein, und der Golf schlittert über den unbefestigten Randstreifen. Dicke Steine spritzen unter den Rädern auf. Jana hält sich erschrocken am Armaturenbrett fest.
„Fahr langsamer!“
„Wir hätten auf der Autobahn bleiben sollen!“
„Ja, ich hab’s verstanden!“ Ihr platzt jetzt der Kragen. „Bitte entschuldige, dass Autofahren für mich immer noch mehr ist als nur schnellstmöglich von A nach B zu kommen! Ich wollte mir die Landschaft ansehen!“
„Na, dazu hast du jetzt ja ausreichend Gelegenheit.“ Sebastian deutet an ihr vorbei in den dunklen Wald hinein. „Tiefste französische Provinz – genieß es!“
Jana wirft ihm einen galligen Blick zu und wendet sich beleidigt ab. Eine ganze Reihe von Gemeinheiten brennen ihr auf der Zunge, doch sie presst die Lippen zusammen und schweigt. Es ist zu spät für Widerstand. Sie sind auf dem Weg nach Marseille, auf dem Weg in ihr Feriendomizil, und irgendwann werden sie dort ankommen, so oder so, und es ist sinnlos, Sebastian jetzt noch zu sagen, dass ihr die Cote d’Azur gestohlen bleiben kann.
Sie sieht aus dem Seitenfenster, an dem die Regentropfen wie an einer Schnur aufgezogen fast waagerecht entlang rollen. Es hat keinen Zweck mit Sebastian zu diskutieren wenn er so aggressiv ist wie im Augenblick. Er ist ein Hitzkopf, ein richtiges Arschloch, wenn die Dinge nicht so laufen wie er es sich vorstellt, und diesmal hat er auch noch allen Grund dazu, allmählich die Nerven zu verlieren. Sie sind verloren im Niemandsland, haben seit dem Morgen mehr als neunhundert Kilometer runter gerissen, eingepfercht in das stickige Innere ihres überladenen Golfs, es regnet seit Stunden wie aus Eimern gegossen, und dieser Trip scheint kein Ende zu nehmen.
Jana reibt sich müde die Augen. Sie sehnt sich nach ihrem Zuhause, nach ihrer Couch, auf der sie jetzt liegen möchte – mit einem guten Buch und einem ebenso guten Glas Rotwein in der Hand. Sie hat diesen Urlaub überhaupt nicht gewollt. Sie wollte zu Hause bleiben, vierzehn Tage lang nur lesen und Filme anschauen, Freunde treffen und die Schwimmbäder und Kneipen der Umgebung unsicher machen. Das war ihre Vorstellung dieses Sommers gewesen.
Doch Sebastian hat sich durchgesetzt. Natürlich. Er muss immer weg, hält es zu Hause überhaupt nicht aus, muss immer unterwegs sein, empfindet während seinem Urlaub alles, was nicht dem reinen Vergnügen dient, als unzumutbare Belastung. Sebastian kann sich nur fern von daheim entspannen, nur in einem fremden Land mit Genuss essen, sich nur in der Ferne gepflegt langweilen.
„Scheiße, was ist denn da vorne los?“
Jana wird aus ihren Gedanken gerissen, als Sebastian hart auf die Bremse tritt und der Gurt sich mit einem unsanften Ruck über ihrer Brust strafft. Der Golf kommt schlingernd zum Stehen. Auf der Gegenfahrbahn steht ein Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage, und ein völlig durchnässter Mann winkt ihnen Hilfe suchend zu. Jana packt Sebastians Arm.
„Nicht anhalten! Das ist eine Falle!“
Er sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Was denn für eine Falle?“
„Na, einer täuscht einen Unfall vor, und wenn wir dann aussteigen, werden wir von zwei weiteren überfallen, die im Gestrüpp gelauert haben.“
Sebastian zeigt ihr einen Vogel.
„Du hast sie nicht mehr alle! Ich fahr’ jetzt nicht einfach weiter, nur weil du dir zu viele schlechte Filme im Fernsehen ansiehst. – Der Typ dort kann uns vielleicht weiterhelfen.“ Er sieht wieder zu dem Mann hinüber, der abwartend neben seinem Auto steht. „Scheiße, das glaub’ ich jetzt nicht!“
„Was ist denn?“ Janas Herz macht einen unruhigen Satz. Sie hat Recht mit der Falle! Jeden Augenblick wird jemand die Beifahrertür aufreißen und sie zwingen, auszusteigen.
„Das gibt’s doch nicht!“ Sebastian beugt sich vor und betrachtet den Mann am Straßenrand mit zusammengezogenen Augen. „Das ist Zinédine Zidane!“